Künstliche Intelligenz in Lehre und Unterricht: Interview mit Meike Raaflaub und Brigitte Reber, Dozentinnen für Englisch

Künstliche Intelligenz in Lehre und Unterricht: Interview mit Meike Raaflaub und Brigitte Reber, Dozentinnen für Englisch

Künstliche Intelligenz kreiert auf Befehl Texte, Übersetzungen und Bilder: Eine futuristisch anmutende Technologie, die bereits heute verfügbar ist. Welche Impulse kann dies Lehre und Unterricht geben? Darüber sprechen wir mit Dozierenden aus verschiedenen Fachbereichen. Diesmal geht es um KI-unterstützte „Machine Translation“ und deren Auswirkungen auf das Fach Englisch.

Brigitte Reber und Meike Raaflaub sind Englisch-Dozentinnen am Institut Sekundarstufe I. Im Rahmen der „Projektförderung Digitale Transformation und Digitalität“ der PHBern haben sie das Projekt „Übersetzungsmaschinen und Mediation im Englischunterricht – Weiterentwicklung der Englischdidaktik“ erfolgreich abgeschlossen. Gegenwärtig arbeiten sie am Förderprojekt „Übersetzungsmaschinen kompetent einsetzen: Entwicklung eines Strategietrainings zum Einsatz von Machine Translation im Englischunterricht“.

Digital Learning Base: Bei Übersetzungsdiensten wie DeepL oder Google Translate ist deutlich erkennbar, was die Unterstützung durch künstliche Intelligenz leisten kann. Könnt ihr beschreiben, wie dies bei Lehrpersonen und Dozierenden aufgenommen wird? Erleben Sie ihren „Taschenrechnerschock“, den der Mathematikunterricht mit der Einführung eines leicht verfügbaren, leistungsstarken Hilfsgeräts erfahren hat?

Meike Raaflaub: In einem unserer Entwicklungsprojekte sollen Schülerinnen und Schüler unter anderem bei einer Aufgabe Texte produzieren. Ihre Lehrpersonen fragen uns dann häufig: „Dürfen Sie dabei Übersetzungshilfen benutzen?“ Wir antworten darauf mit einer Rückfrage: „Was hättest du als Lehrperson gern?“ Meistens kommt dann eine kurze Pause, eine Art Entschuldigung, und dann die Antwort: „Ich möchte lieber, dass die Schülerinnen und Schüler dies nicht verwenden.“ Man lässt höchstens einzelne Wörter nachschlagen. Insgesamt kann man eine grosse Zurückhaltung beobachten und die Sorge, die Kontrolle über die Textproduktion in der Klasse zu verlieren.

Brigitte Reber: Wir haben beobachtet, dass das Problem oft mangelnde Vertrautheit mit den Werkzeugen ist. Viele Lehrpersonen nutzen, wenn überhaupt, für den persönlichen Gebrauch eher leo.org oder pons.de – also Dienste, die nahe sind am gedruckten Wörterbuch. Tools, die Übersetzungen bis zur Ebene gesamter Texte ermöglichen, werden von vielen nicht aktiv verwendet. Es ist nicht erstaunlich, dass die Lehrpersonen das Potenzial darin nicht erkennen.

Meike: Es hängt letztlich auch stark vom Lehrmittel und vom Unterrichtsstil ab. Die Lehrmittel sind oft eher kleinschrittig ausgerichtet, man lernt Vokabeln als Basis und arbeitet dann mit ihnen. In diesem Setting macht es kaum Sinn, Übersetzungsmaschinen zu verwenden. Google Translate oder DeepL schlagen ja z.B. jeweils verschiedene Wortvarianten vor, über die man diskutieren könnte. Aber die gängigen Aufgabenstellungen sind für solche Szenarien einfach nicht komplex genug. Die Überlegung müsste sein: „Wie muss ich den Unterricht verändern, um das Potenzial dieser neuen Werkzeuge nutzen zu können?“ Aber diesen Reflex haben nur wenige Lehrpersonen.

Brigitte: Um auf deine Eingangsfrage zurückzukommen: Man darf ja nicht vergessen, dass der Taschenrechner bis heute teilweise noch verbannt ist aus dem Schulzimmer. Das mag manchmal sinnvoll sein. Dennoch sollte der Fremdsprachenunterricht sich schon heute mit der Tatsache befassen, dass wir irgendwann an den Punkt kommen werden, an dem man eigentlich keine Fremdsprache mehr lernen muss, weil der Computer für einen übersetzen kann.

Bilder generiert mit Midjourney. Vorgabe war: "a drawing by a pre-school child, using crayons, showing an English beefeater talking to a tourist in london".

Meike: In einem solchen Szenario hätte dann die schulische Auseinandersetzung mit Französisch oder Englisch Parallelen zum heutigen Lateinunterricht: Etwas, das nur noch in Schulen stattfindet, steht neben einer „realweltlichen“ Anwendung, die weitgehend losgekoppelt ist von dem, was im Unterricht stattfindet.

Brigitte: Im Unterricht ginge es dann vor allem um linguistisches Bewusstsein.

Gibt es auch einen Druck seitens der Schülerinnen und Schüler? Diese lernen ja nicht nur, wie ihr in einem anderen Forschungsprojekt verfolgt, zunehmend auf informellen Wegen ausserhalb der Schule Englisch. Sondern sie tun dies vielleicht auch mithilfe maschineller Übersetzungsdienste?

Brigitte: Wir haben Schülerinnen und Schüler befragt dazu. Der Tenor ist oft: „Wenn wir Hausaufgaben haben und es schnell gehen muss, dann benutzen wir solche Dienste.“ Dies oft mit schlechtem Gewissen, weil sie wissen, dass es eigentlich verboten wäre. Wir haben aber auch immer wieder Schülerinnen und Schüler, die ganz anders argumentieren: „Ich bin schneller, wenn ich es direkt auf Englisch mache, statt den Text erst auf Deutsch schreiben zu müssen und ihn dann zu übersetzen.“ Das hängt letztlich stark von der Aufgabenstellung ab.

Teilweise sagen die Schülerinnen und Schüler aber auch: „Es wäre praktisch, wenn man schnell nachschauen könnte anstatt zu warten, bis die Lehrperson einem das fehlende Wort sagt.“ Sie erkennen also, dass es eine Ressource wäre, v.a. wenn sie längere Texte schreiben müssen. Eine Ressource, auf die sie nicht zugreifen können, wenn die Lehrperson den Gebrauch nicht zulässt.

Meike: Spannend ist auch, dass wir gefragt haben, ob sie wissen, wie solche Maschinen funktionieren. Die Schülerinnen und Schüler durchschauen dies nicht. Teilweise verstehen sie es als digitales Wörterbuch. Es gibt aber sogar die Vorstellung, dass Personen dahinterstecken, die den eingegebenen Text manuell abtippen und übersetzen. Dass es sich um ein datenbasiertes Programm handelt, das über die Datenmenge dazu lernt, ist den Schülerinnen und Schülern absolut unklar. Dabei wäre ein besseres Verständnis durchaus wichtig:  Um ein Werkzeug kompetent nutzen zu können, sollte man eine Ahnung davon haben, wie es funktioniert. Das fehlt komplett.

Bilder generiert mit Midjourney. Vorgabe war: "a drawing by a pre-school child, showing a brain with a cable and a plug attached".

Brigitte: Die Schülerinnen und Schüler machen auch keinen Unterschied zwischen Pons und Google Translate oder DeepL. Interessante Verwendungsweisen wie das Rückübersetzen, das Anzeigen von Wortvarianten oder die Möglichkeit, ein Wort aussprechen zu lassen – das alles kennen viele nicht.

Meike: Was sie immerhin kennen, ist die Rechtschreibprüfung. Von da aus ist es aber ein weiter Weg Richtung Language Awareness. Also Fragen wie: Welches Wort passt im Kontext am besten? Sie sind meistens noch nicht in der Lage, von der schnellen Anwendung weg- und beim Reflektieren anzukommen. Obwohl die Schülerinnen und Schüler sonst im informellen Lernen durchaus gut sind.

Ab welcher Stufe kann man die KI-gestützten Übersetzungsdienste sinnvoll einsetzen?

Brigitte: Wir arbeiten für unser Projekt in 8. Klassen. Auf dieser Stufe haben die meisten Schülerinnen und Schüler ausreichende Sprachkompetenzen. Aber es hängt sehr stark von der Haltung der Lehrpersonen ab, was dabei herauskommt. Eine Schülerin hat uns etwa zurückgemeldet, dass sie dankbar war, gelernt zu haben, wie sie via DeepL ihr Vokabular selbstständig erweitern kann. Aber das ist in einer Klasse, in der die Lehrperson stark bemüht ist, die Schülerinnen und Schüler in ihrer persönlichen Sprachentwicklung zu begleiten. Die Haltung hier ist eher: „Wir haben dieses Tool, wir versuchen, es gewinnbringend einzusetzen fürs Sprachenlernen.“ In einem solchen Setting ist auch die Basis dafür gegeben, dass die Klasse verstehen lernt, wie solche Maschinen funktionieren.

Meike: In diesem Kontext können sie auch lernen zu entscheiden, wann sie solche Dienste brauchen – und wann nicht. Lehrpersonen haben ja oftmals grosse Angst davor, dass die Schülerinnen und Schüler in dieser Hinsicht nicht differenzieren können. Unsere Projektergebnisse zeigen jedoch, dass sie nicht immer auf Maschinen zurückgreifen, nur weil diese verfügbar sind. Sie können durchaus differenzierte Entscheidungen treffen.

Brigitte: Es gibt aber auch die gegenteilige Situation. Lehrpersonen, die sagen, ihre Schülerinnen und Schüler seien nicht mehr fähig, mit "ihrem eigenen" Englisch etwas zu Papier zu bringen. Stattdessen bräuchten sie nur noch den Übersetzer. Bei Nachfragen haben wir dann aber bemerkt, dass dies auch mit der Fehlerkultur zu tun hat. Wer Angst vor Fehlern hat, denkt sich eher: „DeepL ist die sichere Variante.“ Damit nährt man ein blindes Vertrauen in die Maschine. Der Umgang der Klasse mit den Werkzeugen hat also sehr viel mit Haltungen und der Unterrichtskultur zu tun.

Bilder generiert mit Midjourney. Vorgabe war: "drawing of children choosing between tools that are lying on a table in front of them".

Meike: Man muss ins Gespräch kommen mit den Lernenden. Wenn man als Lehrperson nur entscheidet, was geht und was nicht, ist das wenig hilfreich. Man muss mit den Schülerinnen und Schülern reflektieren, was sie brauchen, wie sie sich damit fühlen. Und nicht einfach nur vom Lehrmittel ausgehen. Dies gilt umso mehr, als, wie gesagt, die Aufgaben in den Lehrmitteln relativ simpel sind. Meistens werden nur sehr kurze Texte mit Kriterien verlangt, die stark auf dem Anwenden von Vokabular und Grammatik beruhen. In diesem Rahmen ist es kaum möglich, die Texte oder die Sprache vertiefter zu reflektieren.

Wie bereitet ihr in der Lehre an der PHBern die künftigen Lehrpersonen auf die entsprechenden Herausforderungen vor?

Meike: Wir bieten im Master eine Veranstaltung explizit zu Übersetzungsmaschinen im Fremdsprachenunterricht an. Das ist ein guter Rahmen: Man merkt, dass die Studierenden an diesem Punkt Unterrichtserfahrung haben. Das Thema ist bei Ihnen durch die Praxis präsenter. Idealerweise müsste man die Thematik aber bereits früher aufgreifen und konstanter damit arbeiten. Im neuen Studienplan gibt es eine modulübergreifende Lerngelegenheit zu diversen Aspekten von Digitalität im Fachbereich Englisch, die wir zusammen mit dem Medien-und-Informatik-Team durchführen.

Brigitte: Die Studierenden sollen dabei unter anderem lernen, Tools souverän zu kombinieren. Man kann zum Beispiel die Vorlesefunktion von Word sehr gut in Verbindung mit Übersetzungstools einsetzen im Unterricht. Es ist eigentlich erstaunlich, wie wenig Personen diese kennen. Dabei könnte es eine echte Unterstützung für die Lehrperson sein. Insgesamt arbeiten wir daran, Aspekte der Digitalisierung für den Fachunterricht breiter in der Lehre zu behandeln. Der Bereich Medien und Informatik kann hierbei die Hintergründe liefern, damit die Studierenden die Werkzeuge besser einzuschätzen lernen.

Erkennt ihr „Zukunftskompetenzen“ für den Fachbereich Englisch, die durch die Verbreitung von Werkzeugen wie den besprochenen relevant werden?

Brigitte: Grundsätzlich geht die Entwicklung in Richtung selbstorganisiertes Lernen. Die Kompetenz, Unterstützungstools sinnvoll einzusetzen, wird dabei eine Rolle spielen. Aber das ist eher eine allgemeine Entwicklung, die nicht nur an Übersetzungstools hängt. Ähnliches gilt für weitere Tendenzen: Die Bewegung weg von kleinschrittigen Aufgaben hin zu reichhaltigen, etwa. Auf der linguistischen Ebene kann eine Verlagerung des Fokus beobachtet werden, vom Wort und Satz weg, hin zum Text. All dies sind allgemeine Entwicklungen, die nicht verursacht wurden durch die Digitalisierung. Aber sie können durch digitale Tools unterstützt oder vorangetrieben werden.

Meike: Entscheidend für Lehrperson wird immer mehr auch die Kompetenz zu individualisieren und zu diagnostizieren: Wer braucht wann was? Wie werden die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler abgedeckt durch die Lehrpläne in einer digital geprägten Welt? Dieser Frage möchten wir uns in einem künftigen Projekt widmen. An Relevanz zunehmen werden sicher auch die Fähigkeit zur Sprachreflexion, Language Awareness und Genre-Kenntnisse. Nichts davon ist ganz neu, aber diese Aspekte gewinnen zunehmend an Bedeutung. Als Lehrperson muss man generell viel genauer hinschauen, was man selbst im Unterricht möchte – und wie man damit die Schülerinnen und Schüler unterstützt.

Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!

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  • Ich finde das Thema in diesem Blog und die Art der Thematisierung schon sehr interessant. Mein Hörgerät, das ich im Moment gerade am Testen bin, scheint voll mit KI zu sein … [Beat]

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